Rezension

Hektors tolle Family

Ein besonderes Buch in der grafischen Aufmachung, weil diese durchaus künstlerischen Ansprüchen genügt. Die Illustratorin Sarah Godschan unterscheidet sich mit Ihrer Gestaltung des Buches w o h l t u e n d von der bunten Bonbon-Kultur der weit verbreiteten ‚zuckersüßen‘ Bildchen-Gestaltung von Kinderbüchern.
Auch die inhaltlichen Themen des Buches sind keine Allerwelts-Themen. Das wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, scheint aber deutlich durch. Vor allem, wenn der Leser sich bewusst macht, in welchem Umfeld die Autorin lebt, die die Texte geschrieben hat.
Soweit östlich in Deutschland wie nur möglich.
Probleme, die in dieser Region in den Jahrzehnten nach dem Ende des ostdeutschen Staates im Zuge der Angleichung an das westdeutsche wirtschaftliche und politische System auftraten, sind hinter der Geschichte der Familie Hirsch zu erkennen:

  • Der Familienvater Hirsch Hektor geht in die Fremde – im Buch, weil er reich werden will. Die harte Wirklichkeit, die dahinter steht, dass aus unserer Region Hunderttausende in den Westen gehen m u s s t e n, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen, weil hier die Arbeitsplätze ausgelöscht worden waren. Sehr symbolisch ist, dass Vater Hirsch in der Fremde eine Verletzung erleidet, das ist ja tatsächlich vielfach so gewesen – nur eben eher seelisch.
  • Der Jagd nach Reichtum setzt die Autorin entgegen: Liebe und Freundschaft kannst Du für kein Gold der Welt kaufen. Hier setzt sie ein Zeichen für ihr pädagogisches Anliegen: Kinder müssen auf einer anderen – seelischen – Ebene angesprochen werden. Denn danach ‚dürsten‘ sie. Die Autorin versucht in ihrer ganzen Erzählung dem billigen Materialismus menschliche Werte entgegenzusetzen.
  • Mutter Hirsch erfüllt das – vielfach immer noch – traditionelle Klischee der den Haushalt a l l e i n führenden Frau. Die Idee der Autorin: Mutter Hirsch bekommt einen Burn-out. Auch dahinter steckt ein immer noch schmerzvoll aktuelles Problem: Die berufliche Abwesenheit des Vaters droht wieder die – in ostdeutschen Zeiten schon t e i l w e i s e überwundene – Rolle der Hausfrau für Küche und Kinder zu beleben. Durch die Erkrankung der Mutter wird Vater Hirsch – jedenfalls t e i l w e i s e – zum ‚modernen‘ Familienvater, der durch Aufgabenteilung die Mutter aus der angestammten Rolle befreit.
  • Was auch hier im Osten beim Neuaufbau in den letzten Jahrzehnten eine große Rolle spielte war das Erlernen eines neuen Berufes mitten im Leben, w e i l mit dem früheren Beruf kein Lebensunterhalt mehr zu verdienen war (Firmen waren ‚eingegangen‘). Die Autorin verharmlost die Situation, Vater Hirsch hat einfach L u s t auf eine neue berufliche Herausforderung (allerdings spielen auch gesundheitliche Problem eine Rolle). Jedenfalls erfahren wir in der Geschichte wie Familie Hirsch insgesamt herausgefordert wird zusammenzuwirken, damit der Vater für seinen beruflichen Neuanfang auch die nötige Zeit erübrigen kann. Auch sein Arbeitgeber zieht mit, was – nach meinem Wissen – wohl durchaus nicht die Regel war.

Ich könnte noch mehr Beispiele nennen, z.B. wie die Hirsch-Mutter therapeutisch mit der eigenen Krankheit umgeht oder wie sie ihrem ’strengen Chef‘ mühelos Krankheitsvertretung anbieten kann (Es waren ja genügend Arbeitslose ‚vorrätig‘). Die Autorin bringt diese Themen n i c h t ausdrücklich – und schon gar nicht kämpferisch zur Sprache. A b e r sie klingen deutlich durch – jedenfalls für den, der die Situation kennt und mitdenkt.

Deshalb ist nach meiner Auffassung das Buch ein w i c h t i g e s Buch als zeitgeschichtliches Dokument. Es spiegelt als Kinder- V o r l e s e – Geschichte die Ostwirklichkeit der vergangen drei Jahrzehnte. Und d e s h a l b sollte es vorgelesen werden, v. a. hier bei uns in Ostdeutschland. Es steht auch richtig auf dem Umschlag des Buches: Kinder – V o r l e s e b u c h. Die Autorin ist selbst mit Lesungen unterwegs – d i e angemessene Form, das Buch einzusetzen.

Der methodische ‚Trick‘ besteht darin, dass es harmlos daherkommt, wer aber die Hintergründe Ostdeutschlands als Entwicklungsland in den letzten dreißig Jahren mit seinen Problemen m i t d e n k t, der bemerkt den Sprengstoff, der dahinter steht – hinter dieser Harmlosigkeit. Das Buch unterscheidet sich sowohl in der illustratorischen Gestaltung als auch im Inhalt vom gängigen Klischee – und verdient v. a. aus diesem Grund Beachtung.

Helmut Törne